Nr.10

Breaking The Silence

"Es geht nicht darum, das Militär in Frage zu stellen oder den Soldaten die Schuld zuzuschreiben. Es geht darum das System zu hinterfragen, dass diese Besetzung möglich macht."

 

Einen Tag vor Silvester, am 30.12.2016 entschloss ich mich, gemeinsam mit anderen Freiwilligen, an einer Tour von Breaking The Silence durch Hebron teilzunehmen.

 

"Breaking The Silence" ist eine 2004 von ehemaligen Soldaten gegründete Organisation, die vorrangig Zeugenaussagen von Soldaten in den besetzten Gebieten sammelt, aber auch Touren durch Hebron in der Westbank veranstaltet. Hebron ist deshalb so eine Besonderheit, weil ein großer Teil der Stadt aus einer israelischen Siedlung besteht. Hebron wurde deswegen in die zwei Gebiete H1 und H2 unterteilt. Als H1 wird der Stadtteil bezeichnet, der unter rein palästinensischer Kontrolle steht. In H2 befindet sich die israelische Siedlung von Hebron, allerdings sind auch hier einige Häuser von Palästinensern bewohnt, deren Bewegungsfreiheit durch die Besetzung durch die Israelis allerdings stark eingeschränkt wird.

 

Aber von Anfang an: Die Tour startete früh morgens in Tel Aviv. Drei Reisebusse warteten auf uns und alle anderen Interessierten. Da die Tour an einem Freitag stattfand, war die Beteiligung an diesem Tag besonders groß und es gab insgesamt drei Führungen auf Englisch und zwei auf Hebräisch (nochmal zur Erinnerung: Das Wochenende ist hier Freitag und Samstag). Unser Guide, Ido, war etwa 30 Jahre alt und hatte von 2005 bis 2007 sein Militärdienst als Combat Soldier in der Westbank geleistet. Ein Großteil seiner Aufgaben bestand darin sogenannte „Straw Widow“ Missionen auszuführen. Das ist eine Routineaufgabe der Soldaten in der ganzen Westbank, nicht nur in Hebron. Bei „Straw Widow“ wird völlig willkürlich ein Haus ausgewählt. Mitten in der Nacht kommen Soldaten zu diesem Haus und durchsuchen die darin lebende Familie und machen sich dann Teile des Hauses zu Nutzen. Günstig gelegene Zimmer werden beispielsweise als Aussichtsposten genutzt, andere um Waffen zu lagern.

 

Des Weiteren erzählte Ido uns viele geschichtliche Daten und Fakten und überbrückte somit die anderthalb Stunden lange Fahrt zu einer Siedlung kurz vor Hebron, Kiryat Arba. Wie wir vorher schon vorgewarnt wurden, warteten die dort lebenden Siedler schon auf uns und wollten uns mit Kaffee und Plätzchen von unserer Tour ablenken.

 

Ido zeigte uns zu aller erst einen vom Staat finanzierten Park der nach dem ultrarechten Politiker und orthodoxen Juden Meir David Kahane benannt ist, der in den 1960ern eine Partei gründete, die sich vorrangig als Ziel setzte alle nicht jüdischen Menschen aus Israel zu vertreiben. In diesem Park findet man auch das Grab von Baruch Goldstein, der 1994 ein Massaker in der Ibrahimi Moschee in Hebron verübte und dabei 29 Muslime tötete und 125 weitere verletzte. Er selbst wurde von Überlebenden des Anschlags erschlagen. Auf seinem Grabstein steht grob übersetzt „Für den heiligen Baruch Goldstein, der sein Leben für die jüdische Gemeinschaft, die Thora und die Nation Israels ließ.“

 

Von Kiryat Arba fuhren wir anschließend in das nahegelegene Hebron. Ido führte uns durch ehemalige große Marktstraßen, zeigte uns Bilder von dem Leben, das dort einmal geherrscht hatte. Ein erschreckender Anblick im Vergleich zu der jetzt dort herrschenden Ödnis. Viele der Fenster hatten Schusslöcher und waren zerstört. Es ist kaum vorstellbar, dass in diesen Häusern noch einige wenige Menschen leben. Die Fenster, die von einem Gitter umgeben sind, kennzeichnen sozusagen die noch von Palästinensern bewohnten Wohnungen. Die Gitter dienen ihnen als Schutz vor der Gewalt der Siedler. Steine, Eier und sonstiges Wurfmaterial werden durch die Gitter ferngehalten. Das Leben der Familien, die hinter diesen Gittern leben ist stark eingeschränkt. Die meisten von ihnen können noch nicht einmal durch ihre eigene Haustür ihr Zuhause verlassen oder betreten, denn viele der Straßen sind als „Closed Military Zone“ für Palästinenser gesperrt worden. Stattdessen müssen sie umständlich über am Dach befestigte Leitern in den für Palästinenser zugänglichen Teil der Stadt gelangen.

 

Fast die komplette Zeit wurden wir von Siedlerkindern mit Kameras, Handys und Musikboxen verfolgt. Durch aufdringliches Verhalten und laute Musik versuchten sie unsere Tour zu stören. Das Ganze hatte erst ein Ende als einer der Jungen von der israelischen Polizei verhaftet wurde, weil er gegen die Kamera des Kameramanns von Breaking The Silence schlug.

 

Unsere Besichtigung führte uns auch an dem Punkt vorbei, an dem letztes Jahr ein Palästinenser von dem damals 19-Jährigen israelischen Soldaten Elor Azaria erschossen wurde. Das Militärgericht in Tel Aviv verurteilte ihn, wie ihr sicher wisst, vor wenigen Tagen wegen Totschlags zu 18 Monaten Haft. Der Premierminister Israels, Benjamin Netanjahu sprach sich allerdings schon kurz nach dem Urteil deutlich für eine Begnadigung des jungen Mannes aus.

Kurz darauf gelangten wir zu einem Ort, der für mich an diesem Tag zu einer Art Wendepunkt wurde. Bis dahin war alles mehr Informationen gewesen, die man aufgenommen hatte und weniger emotional. Wir blieben in einer Straße stehen, auf der zwischen Siedlern und Military Bases eine Familie in ihrem Haus hinter den Gittern zu uns schaute. Die Kinder winkten fröhlich, die Eltern und älteren Geschwister sahen bloß interessiert zu uns hinüber. Auf den Gittern war ehemaliges Wurfmaterial der Siedler zu sehen. Es war als würden sie in einem Gefängnis sitzen. Ein anderer Soldat, der erst vor zwei Jahren aus dem Militär entlassen wurde, erzählte uns von einer Situation, in der er und seine Männer Palästinenser, die von Steinen beworfen wurden beschützten und deshalb selbst von den Steinen getroffen wurden. Er berichtete auch von dem engen Verhältnis zwischen Siedlern und Soldaten, beispielsweise, dass einige Siedler regelmäßig die stationierten Soldaten zu Sabbat einluden. Er wurde während seiner Erzählung von einer Siedlerfrau unterbrochen, die ihn aus seiner Zeit in Hebron wiedererkannte. Sie erzählte uns provozierend davon, dass ihr Vater von Palästinensern getötet wurde und mahnte uns diese Leute nicht in unsere Länder zu lassen. Man hätte ja an Paris oder Brüssel gesehen, was das Resultat davon sei. Ab diesem Moment war mir wirklich zum Heulen zu Mute.

Wir gingen ein Stück weiter zu der palästinensischen Organisation „Youth Against Settlement“. Die jungen Menschen, die diese Organisation leiten, setzen sich zum Beispiel dafür ein, dass die wenigen Palästinenser, die noch in H2 leben auch dort wohnen bleiben, und versuchen sie mit finanzieller Unterstützung dazu zu bewegen, der Peinigung durch die Siedler nicht nachzugeben. Ein junger Mann in unserem Alter erzählte uns von einer Situation in der er von Soldaten dafür beschuldigt wurde, mit Steinen geworfen zu haben und deshalb getreten, geschlagen und inhaftiert wurde.

Am Ende der Führung betonte unser Guide Ido noch einmal, dass diese Tour nicht gegen das Militär gerichtet ist, sondern das System, das dahinter steht hinterfragt und die schmerzvolle Situation zeigen soll, die durch die Okkupation der palästinensischen Gebiete entstanden ist.

Auf dem Rückweg bekam jeder Teilnehmer noch ein dünnes Büchlein mit gesammelten Aussagen von Soldaten. Ich verlinke euch hier noch die Seite von Breaking The Silence und ein 30-minütiges Video, dass eine Kurzfassung der Tour durch Hebron ist.

http://www.breakingthesilence.org.il/

https://www.youtube.com/watch?v=TGbV_rXmS1M

Nach dieser Tour und auch bei meinen anderen Besuchen in der Westbank fällt es mir immer noch sehr schwer eine neutrale Position beizubehalten. Es ist manchmal schwierig auch die israelischen Standpunkte zu verstehen und vieles was hier geäußert wird, stempelt man schnell als Rassismus ab. Um dennoch an einem relativ neutralen Punkt zu bleiben, auch in diesem Text, möchte ich nun auch noch ein wenig die israelische Situation schildern, sowie sie mir hier von einem Israeli meiner Meinung nach sehr gut nahegebracht wurde.

 

Breaking The Silence ist in Israel nicht sehr hoch angesehen, vor allem weil sie sich zu einer Organisation entwickelt haben, die sich nun vorrangig gegen die Okkupation einsetzt und nicht mehr nur Geschichten von Soldaten sammelt. Man muss natürlich sehen, dass bei der Breaking The Silence Tour natürlich nur die schlimmsten Orte und Situationen gezeigt werden und nicht die israelische Seite bestärkt wird, sondern die palästinensische. Das ist selbstverständlich nicht im Sinne der Israelis. Mir wurde erklärt, dass die meisten Israelis den Siedlungsbau und die Besetzung der palästinensischen Gebiete nicht unterstützen, sondern sie eher als Selbstschutz benötigen. Die Okkupation ist also sozusagen eine Art Schutzmaßnahme gegen die palästinensische Gewalt. Genauso wie die Mauer, die seit dem Bau 2002, erwiesenermaßen gewaltvolle Angriffe auf Israel eingeschränkt hat. Viele Einheimische fürchten, dass sich ohne diese Schutzvorkehrungen die Westbank in einen zweiten Gaza-Streifen verwandeln könnte. Nachdem Israel seine Truppen aus Gaza zurückzog, konnte die Terrororganisation Hamas die Oberhand in dem Gebiet gewinnen. Aufgrund ihrer gewaltversprechenden Forderungen fürchtet sich Israel vor einer Machtzunahme der Hamas in der Westbank. Im Moment ist die Fatah die führende Partei in Palästina.

 

Allerdings erklärt dies noch nicht den gewaltbereiten Umgang der Siedler mit den Palästinensern. Mir wurde es so erklärt: So gut wie jeder Siedler kennt jemanden, der bei einem Attentat ums Leben gekommen ist, mit Steinen beworfen wurde oder sogar schon einmal selber in eine derartige lebensbedrohliche Situation geraten ist. Da die meisten Siedler nur die Gewalt kennen, die von der palästinensischen Seite ausgeht, empfinden sie ihrer eigenen Vorgehensweise als harmlos und eher als Selbstverteidigung. Es sei also nicht so, als ob sie die Okkupation unbedingt wollen würden, sondern sie eher aus Angst vor mehr Terror nicht beenden können. Warum dann allerdings immer noch neue Siedlungen gebaut werden, erklärt das für mich auch nicht.

 

Ich hoffe ich konnte euch mit diesem Eintrag ein paar Einsichten in beide Seiten geben. Fragen zu meinen Erlebnissen beantworte ich immer gerne.

 

Bis zum nächsten Mal!

 

 

 

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Mama (Donnerstag, 23 Februar 2017 17:02)

    Da hast du einen sehr guten , interessanten und ausgewogenen Text zu einem schwierigen Thema geschrieben.
    Alles Liebe
    Mama

  • #2

    Rolf (Montag, 27 Februar 2017 16:54)

    Hi Sara,
    eine super Schilderung, die ich mit viel Interesse gelesen habe. Man kann deine Emotionen sehr gut nachvollziehen und trotzdem hast du versucht, auch Verständnis für die israelische Seite zu erzeugen. Mir scheint, dass da eine neue Nahost-Korrespondentin heranwächst ;-).
    Liebe Grüße und pass auf dich auf.
    Rolf und Ronja-Lea

  • #3

    Joachim (Sonntag, 26 März 2017 15:50)

    Hallo Sara
    Wirklich beeindruckend, dein Bericht und deprimierend, weil du das ganze Ausmass des Konflikts dort spüren konntest und auch so genau geschildert hast. Da fragt man sich, ob es je eine Lösung geben wird und wie die aussehen könnte.
    Viele liebe Grüsse
    Joachim